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rabenrat
O.
Die
Nacht war kalt. Wenigstens schien die Innenstadt ausgestorben:
kaum eine Seele unterwegs in den engen Gassen, und so entging ich
einer dieser lästigen Personenkontrollen, ohne mich
unsichtbar machen zu müssen. Der Wind streichelte mir das
Gesicht mit dem Charme veitstanzender Rasierklingen. Ich drückte
mir den hochaufragenden Hut noch etwas tiefer; die Luft war
feucht, im Schein der Laternen sah man trübes Geniesel. Ich
ging rasch. Kein Mond am Himmel. Von etwas weiter weg krähte
ein schwarzer Vogel, aber man konnte ihn nicht sehen. Ich gab den
Ruf leise zurück. Dann trat ich ein.
Die
Tür knarzte wie gewohnt, schob beim Aufstemmen mal wieder den
gammeligen Flurteppich halb beiseite und ließ sich dann
wegen der eingeklemmten Teppichwellen nicht mehr weiter bewegen,
weshalb ich mich durch einen schmalen Spalt schlängeln mußte.
Drinnen roch es nach Zimt und Zeder sowie immer noch nach dem, was
der heftige Duftlampeneinsatz wohl unterdrücken sollte, aber
nie ganz schaffte. Beim Durchzwängen durch den engen Flur
stieß ich den Staubsauger halb um und wäre beinahe über
einige verstreute Schuhe gefallen, weil ich den Kater nicht treten
wollte, der mich erst fauchend und dann schnurrend begrüßte,
bevor er wieder davonstob das närrische Vieh. Die Tür
zum Wohnraum ging wie von selbst auf.
"Hallo,
Lennia." Die Angesprochene sah von ihrer Kartenlegerei auf
und musterte mich nur beiläufig, als käme ich jeden Tag
mindestens dreimal vorbei (dabei war ich seit Ewigkeiten nicht
mehr dagewesen). Mich umsehend, trat ich näher. Der niedrige
Raum mit den kargen Möbeln sah angegammelt aus wie immer; auf
dem Kohleofen, den sie auch als Herd verwendete, standen Töpfe,
von denen einer dampfte. Lennia kniff die Augen zu schmalen
Schlitzen zusammen. Sie war älter geworden, doch mich
beeindruckte ihr Gesicht noch immer: das dunkle Haar, die
ledrig-bronzene Haut, die strenge, leicht gebogene Nase, der
feinsinnige Mund mit den etwas dünnen Lippen. Und ihre
sonore, selbstbewußte Stimme.
"Sag was du
willst, und dann verschwinde. Ich hab zu tun. ...Tabak?" Sie
hielt mir ein Monstrum von einer selbstgedrehten Tüte hin,
die an eine plumpe Zigarre erinnerte, da von Hand in braunes
Maispapier gewickelt, wie es bei ihrem Volk Sitte war. Ich
schüttelte den Kopf. Sie zog an der Riesenzigarette und
paffte, mich nicht aus dem scharfäugigen Blick ihrer
tiefdunklen Augen lassend, den Qualm aus dem Mundwinkel zur
Seite. "Ich habe Munin verloren," sagte ich. "Warum
knotest du ihn dir nicht in den Bart?" brummte sie vergnügt.
"Hier ist er nicht vorbeigeflogen." "Lennia, es
ist ernst. Ich brauche ihn dringend." entgegnete ich. "Was
kann ich für deinen Raben? Und nenn mich nicht immer
Lennia." "Du erinnerst mich an sie." "Ich
wüßte nicht weswegen. Hab ich vielleicht deinen
cholerischen Donnersohn geboren? Und wenn du eine Mamma
brauchst, dann geh doch zu deiner eigenen." Sie guckte
streng, aber ich nahm erleichtert wahr, wie es in ihren Augen
gutmütig aufblitzte: wenn auch nur einen Moment lang. Wir
hätten uns jetzt wieder wie gewohnt streiten können
nur neckend, natürlich: daß ich sie für eine
indianische Göttin hielt (nur nie erfuhr, welche), weil sie
mit kühler Koketterie darauf beharrte, eine "ganz
gewöhnliche Menschenfrau" zu sein, obwohl selbst für
diesen unmöglichen Fall die Eigenschaft "gewöhnlich"
eine bodenlose Untertreibung geblieben wäre: Die
Kleinwüchsige war die mächtigste Schamanin, die ich
außerhalb meiner eigenen Kreise kannte. Da wir es beide
eilig hatten, überging ich das Geplänkel: "Ich
brauche eine Verwandlung."
"Warum machst du das
nicht selber? Hast du die Kunst vergessen?" "Ich
sagte doch, ich habe Munin verloren." "Und wenn du
den andern schickst, seinen Bruder, den ... den Dingsda?" "Hugin
kann ihn nicht finden. Sonst wäre ich nicht hier. Außerdem:
wenn ich den auch noch verlöre..." Ich breitete etwas
hilflos die Arme aus. Sie antwortete mit einem Fluch in ihrer
Sprache. "Verwandlung. Bei der Pfeife meines Vaters! Kann
deine zweifellos hochtalentierte Bettgenossin 'Katie' das nicht
erledigen? Die hat´s dir doch schonmal beigebracht."
Sie grinste mir ziemlich unverschämt, aber auch etwas genervt
ins Gesicht. "Die Große Katze ist anderweitig
beschäftigt." Außerdem mußte ich daran
denken, daß mich Freyja wohl erstmal schallend auslachen
würde, wenn ich ihr gestände, daß ich ohne meinen
Gedächtnis-Raben Munin auch keinerlei Siedezauber-Kunst mehr
mächtig war. Aber das wollte ich meiner indianischen
Verbündeten jetzt nicht auf die Nase binden: nicht unter
diesen Umständen. Nicht in dieser kalten deutschen
Winternacht. nicht an diesem Ort, in diesem kaum begonnenen
Jahrhundert. "Ich weiß, daß du die Zutaten
parat hast. Und auch ich hab es eilig. Ich will dich nicht länger
aufhalten als nötig. Wirklich!" Der bittende Unterton in
meiner Stimme war durchaus ehrlich.
Mit einem Seufzer stand
Lennia auf, wobei sie ihre Karten zusammenschob und sich dann mit
beiden Händen auf den Tisch stützte. Obwohl sie stand,
blieb sie winzig: Nichteinmal halb so groß wie ich, obwohl
ich mich nicht größer zeigte als ein
hochaufgeschossener Mensch.
"Watog´la, du bist
eine Nervensäge." Sie nannte mich bei diesem Namen,
obwohl sie selbst keine Lakota war. Aber so hatte ich mich ihr
einst vorgestellt, vor (nur nach Menschengedenken) längerer
Zeit, als ich an einem ganz anderen Ort, und damals auch in
heimlicher Not, das erste Mal in ihren Kreis gewankt war. Jener
Kreis damals war ein Tipi gewesen auf der anderen Seite
Nehallénias, wie manche der Meinen die Erde manchmal
nennen. Und Große Kleine Frau Lennia, wie ich sie
gern herzend heiße, weil sie mich in vielem an die Mutter
meines mächtigsten Sohnes erinnert hatte mich in ihre
Arme genommen, mir ihren heiligen Tabak angeboten, und ... aber
das ist jetzt eine ganz andere Geschichte, die ich schon deswegen
nicht wiedergeben kann, weil ich ja schließlich mein
Gedächtnis verloren habe. Oder jedenfalls sehr wichtige Teile
davon: unterwegs in Gestalt meines schönen schwarzen Raben
Munin, den ich heute früh ausgesandt hatte wie immer
und der am Abend nicht mehr wiedergekommen war. Ich konnte mir
denken, warum doch vermied es geflissentlich, mir selbst
die Antwort zu geben: Warum sich dem Grauen unnötig
aussetzen, solang noch etwas dagegen zu unternehmen war. Ich
hoffte indes inbrünstig, die Dinge würden nicht
schlimmer kommen. Es waren gefährliche Zeiten. Der wichtigste
Quell meiner Orakelkünste, das einbalsamierte Haupt Mimirs,
hatte mich auch schon seit Tagen angeschwiegen: Die Kräuter,
die den Toten zur Weissagung befähigten, waren mir
ausgegangen. Ich mußte unbedingt neue besorgen, bevor er mir
womöglich noch verfaulte. Zur Zeit war wirklich fast überall
der Wurm drin... Aber zuerst mußte ich meinen Raben
wiederhaben: Munin mehr als eines alten Raters
Gedächtnisses Stütze! Meine allwissende Frau half mir
natürlich auch nicht: Die sprach grad mal wieder nicht mehr
mit mir, wegen einiger jüngerer Eskapaden mit
Menschentöchtern aber das war´s jetzt nicht,
woran ich mich erinnern wollte... deswegen suchte ich meinen
wichtigsten schwarzen Raben ganz bestimmt nicht. Es gab wirklich
Wichtigeres auf (und zwischen) den Welten. Fast schien mir schon,
als könnte ich Fenrir, den heillosen Mondverschlinger,
knurren hören... Seiner Fesselung konnte man jedenfalls nicht
auf ewig trauen.
"Sisa!" (So hieß die Große
Kleine natürlich auch nicht, aber ich hoffte, daß
"Blume" ihr schmeicheln würde.) "Du weißt,
daß Súrturs Finger auf der Erde sind seit
längerem. Die Sterblichen können mit dieser Macht nicht
umgehen. Sie wissen nichts mehr von den andern Welten. Keine
Ahnung haben sie, aus welchem Reich der Schwarze Feuerdiener
kommt. Sie spielen mit seinen Kräften, als könnten
ausgerechnet sie die beherrschen... Und in der momentanen Lage
kommt es vielleicht zu einer..."
Lennia unterbrach
mich: "Erzähl du mir nichts von der Lage. Spirite
Grande! Während du deine Raben um den Erdball jagst und
verlierst..." Spott verkniff sich die Gute
weißmirselber selten "...und mit deinen
verlausten Vögeln auch sogleich Gedanke und Gedächtnis
in der nächstbesten Kanalisation hopsgehen ...oder
hast du dir dein allerwertestes Vogelvieh vielleicht vergrault mit
deinem ständigen Gevögel argloser Menschenmädchen...?"
Sie liebte Gewitzel in Fremdsprachen, von denen sie durchaus viele
beherrschte. Und war nicht mehr zu bremsen: "Während du
dich auf deine verschrobene Art vergnügst und wichtig machst,
du alter Kauz, und wahrscheinlich noch über deine eigenen
Orakelrunen stolperst dabei, in der Hoffnung, ein paar deiner
Anhänger zu retten, während dir hier auf Mutter Erde
seit geraumer Zeit meistens die falschen hinterherlaufen, lese ich
ganz einfach Zeitung!" Sie griff ein paar bedruckte Blätter,
die auf dem Stuhl neben ihr lagen, und schmiß sie auf den
Tisch. Ich machte mir nicht die Mühe, die reichlich fetten
Schlagzeilen zu entziffern ich wußte selber, was
abging. (Außerdem vertrete ich eine schriftlose Kultur.
Reicht doch, wenn man die Runen beherrscht, oder? Mächt´geren
Zauber gibt es kaum...)
Bevor ich jedoch zu einer adäquaten
Entgegnung anheben konnte, nickte die Indianerin. "Also gut.
Ich helfe dir." Sie sprach es nicht aus, sondern ließ
mich in ihrem Blick lesen. "Wie lang brauchst du für die
Medizin?" wollte ich wissen. Lennia deutete auf den Herd:
"Hab sie schon fertig." Wir maßen uns mit den
Augen. Du hast gewußt, daß ich komme, sagten meine.
Ich braue sie für noch ganz andere als für dich, sagten
ihre. Und in ihrem Blick sangen die alten und die neuen Stämme
von Ecuador, ganze Ahnenreihen von Menschengenerationen, und die
lange Geschichte ihres Volkes spielte sich zeitrafferartig in den
Schlitzen ihrer glutdunklen Augen ab, mit ihrem Stolz, ihren
Künsten, ihrer Lebensart, dem tragischen Untergang ihrer
Kulturen und all den Massakern, dem Leid und Elend der Tage, da
die bleichhäutigen Söhne der Erde das Beste entrissen
und ihre besten Kinder niedermachten, wo sie sie trafen und
für einen Moment lang schimmerte der Bitterschein eines
Vorwurfs in ihrem Blick, doch ich wußte, daß er nicht
den Meinigen galt: Meine Schützlinge waren genauso im Zeichen
des Kreuzes gemartert worden wie die ihren, nur war es bei ihren
nicht so lang her und für den jüngsten
bestialischen Mißbrauch meines Namens machte sie mich
sowenig verantwortlich wie ich den geschundenen Gustl von Nazareth
für die Kreuzzüge des Westens, seien diese nun alt oder
neu.
Ich gab ihren Blick zurück und ließ in
meinem lesen: Wie meine Feinde die Swastika geraubt, geschändet,
das alte Sonnenrad verdreht und geschwärzt hatten, bis nach
seiner millionenfachen symbolischen Umkehrung ein nachhaltiges
Zeichen von Tod und Verderben daraus wurde, das umso stärker
im kalten Feuer unermeßlicher Bosheit glühte, als die
Leiber der schlimmer und schändlicher als Vieh
Hingeschlachteten zu Massen und Abermassen verkohlten und verheizt
wurden und zu beißendem Gestank verrauchten einem
Gestank, der noch an den Erben und Kindeskindern der Mörder
haften blieb, sich aschekalt über und in die Seelengründe
legte von ganzen Generationen, und mehr als ein Volk vergiftete...
Und obgleich wir, die Rater, das Rad hart zurückgedreht
hatten nach Nornengesetz, bis es die ganze dreckige
Todesmaschinerie selbst mit Stumpf und Stiel zerstampfte, zu
bröckelnder Schlacke und bröselndem Staub zermahlte im
kaum abstumpfenden Widerschein ihrer namenlosen Verbrechen
so war, am Schluß jenes unheilvollsten Waffenganges, auf der
andern Erdseite doch eine künstliche Sonne zuviel aufgegangen
unter der Sonne, hatte ihrerseits eine neuartige Form plötzlichen
und massenhaften Verderbens hinterlassen mit dem
"Plutonium" (welch treffender Name) hatte die Menschheit
Súrtur, dem gräßlichsten aller Feuerdämonen,
den gefährlichsten Dreck aus seinen Fingernägeln
mittenmang auf die Erdenwelt gekratzt: Hiroshima hieß sein
Bahnhof, Nagasaki sein Hallo. Doch hätte man die kaum mehr
verhinderbare Entwicklung dieser "Waffe" gar dem
hybriden Schnauzbart von Deutschland überlassen sollen? Mit
seinem verräterischen Ungeist hatten wir weißmirselber
zuviel zu tun und haben es bis heute. Arbeit wird es kosten, auch
seine jämmerlichen neuen Jünger (von denen sich zuviele
für die meinen halten) in den Staub zurück zu treten,
bis sie das scheißebraune Gift aus ihren Primatenschädeln
kotzen und dann vielleicht vor Göttern und Menschen
etwas Demut und Anstand lernen...
Mein Blick hatte sich
verloren, und eine Handbewegung Lennias brachte mich in
gegenwärtige Wirklichkeit Midgards zurück. "Hier
lang." Sie schlug einen Vorhang beiseite und hieß mich
in den dahinterliegenden Raum treten. Ich legte Hut und Mantel ab,
mußte mich dennoch unter der Schwelle bücken, und
setzte mich dann auf den Rand des bunten Teppichs, in den schöne,
mir nicht allzuvertraute Symbole und Tiergestalten hineingewoben
waren. In der Mitte des Zimmers prangte beherrschend ein großer,
mondsichelförmiger Altar aus Erde und getrocknetem Lehm,
blumengeschmückt, und mit einer blauen und einer roten dünnen
Rinne auf seinem Rist, deren Enden sich an seiner mittleren
Erhöhung trafen: der spirituelle und der materielle
Weg...
"Ich kann dir jetzt nicht erst ein Schwitzhaus
machen..." begann Lennia. "Ich brauche keines,"
beschwichtigte ich. "Ich bin doch kein Mensch..." (und
unter den Ratern kein Anfänger, setzte ich stumm hinzu.)
"Beginnen wir gleich die Zeremonie." schlug ich vor.
Sie wuselte etwas unwirsch mit der Hand über dem Tal des
Altars und verschwand wieder durch den Vorhang: Ich sollte das
Feuer entzünden, während sie die Medizin holte. Viel
fertiges Brennholz lag nicht da, aber für mich würde es
reichen. Ich schlug eine Rune hinein, und als Lennia mit einem
großen Topf wiederkam, stand klein, aber lodernd die heilige
Flamme.
"Du wirst es aus dem Topf schlucken müssen
kein sauberes Geschirr mehr im Haus. Andere waren vor dir
da..." bemerkte sie. "Hast du schon gesungen?"
"Ich singe die ganze Zeit, wenn ich den Mund aufmache,"
wehrte ich ab. Bin schon fertig mit allen erdenklichen
Vorbereitungen und soweit, hieß das. Sie lächelte
honigsüß: "Es muß ja auch Vorteile haben,
ein Gott zu sein." Ich gab der alten Spötterin den
schönsten Aufschlag meines einzigen Auges: "Mein Gaumen
wird dafür noch schlimmer leiden müssen als der deiner
Menschenschüler." Denn ich wußte um den
scheußlichen Geschmack ihrer Gebräue. Aber schließlich
war das hier kein Met-Gelage. "Bist du überhaupt
nüchtern?" fragte sie noch überflüssigerweise.
"Meine Güte, für was hältst du mich, weise
Frau? Für einen möchtegern-germanischen Trunkenbold?"
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Sie blitzte mich
an mit makellosen Zahnreihen, auf die ich hätte neidisch
werden können. "Dein donnernder Sohnemann soll
schließlich Ochsen im Ganzen verknuspern, kam mir zu Ohren.
Nicht gerade die Speerspitze des Vegetarismus..." lästerte
sie freundlich. Laß gut sein, winkte ich ab: "Ich trank
nur etwas Wein." (Sie wußte, daß ich nichts
esse.)
"Tabak muß sein!" Mit diesen Worten
reichte sie mir eine neue jungfräuliche Maisblatt-Zigarre.
"Danke, daß du sie mir vorgedreht hast. Und welchem
'Großen Geist' soll ich jetzt bitteschön
danken...? grinste ich sie an. Sie lächelte: "Wenn
der große Aufsichtsratsvorsitzende von Asgard keine Macht
über sich duldet, ist er auch nicht viel besser als seine
kreuzvernagelte Konkurrenz!" Ich machte eine unwirsche
Handbewegung ob des wie ich fand, etwas plump geratenen
provozierenden Scherzes (denn davon abgesehen, daß Asgard
seiner Königin gehört und nicht mir, wenn ich auch mit
der verheiratet bin, so wird doch meine Rolle in der Firma von den
wenigen Menschen, die überhaupt noch oder wieder
davon wissen, allzugern überschätzt. Aber das wußte
sie doch alles längst!)
Ich schnitt also eine
Kenaz-Rune ans dickere Ende des Tabakröllchens, das sogleich
zu qualmen begann, und nahm einen tiefen Zug (das Zeug, das ihren
heiligen Bet-Tabak darstellte, schmeckte immerhin besser als das,
was ich gleich zu mir nehmen würde). "Ich danke Dir,
Große Kleine Frau des Alten Volkes," hub ich an
(während ich das Mundstück der Kippe Richtung Altarfeuer
hielt, daß der Geist der Flamme am Genuß teilhaben
möge, und meine freie Hand unter die angerauchte Glut hielt,
daß heilige Asche nicht etwa unbeachtet abfiele man
weiß schließlich, was sich gehört), "...und
ich achte Urda, des Ursprungs, Verdandi, der Werdenden, und Skuld,
welche das Ende bemißt, und ich, Herr über Götter
und Menschen, beuge mich ihrem Gesetz, das wir Schicksal oder Die
Drei Nornen nennen: dem und denen alles was ist, war und wyrd,
unterworfen ist, was seit Anbeginn gilt für Götter wie
für Menschen und Alben und Zwerge und Riesen, wie für
alle anderen Geschöpfe in allen neun Welten und dazwischen,
hier, jetzt, für immer, seit ewig, und überall. Und ich
bete zu allen Geistern und Kräften, die ich selbst
repräsentiere oder befehlige, zu tun was jetzt nottut, und
daß mein Rabe Munin zurückkomme zu mir und ich zu ihm
mein Wille geschehe. Und so danke ich auch mir selber ich selbst
und segne mich in des tobenden Sturmwindes Namen, der meine
älteste Erscheinungsform ist: Ich, Odhinn Wotan Hengikjöptr
Sanngetall Helblindi Draugadróttinn Gangléri
Runatyr..." Und ich nahm (meine übrigen knapp
zweihundert Namen vorsichtshalber ignorierend schließlich
fehlte mir mein schwarzgefiederter "Hauptspeicher",
deshalb war ich ja hier) einen weiteren Zug von dem heiligen Tabak
und legte das angerauchte Stück, das nicht mehr lange glimmen
würde (Maisblatt brennt schlecht), an den Rand des
Erdenaltars.
Große Kleine Frau, jetzt unaussprechlich
groß und schön in ihrer wie durch Wunder festlich
wirkenden Erscheinung, reichte mir mit ihren schmalen kräftigen
(und von manchen indianischen Riten stark vernarbten) Armen den
vollen Topf: "Trink!" Ich nahm das Emaillegefäß
an den Henkeln und bedauerte sogleich, ein sehendes Auge zu haben:
Die Brühe sah nicht viel besser aus als sie erfahrungsgemäß
schmecken würde ein undefinierbares Geschwappe in
einer Dünnschiß nicht nur ähnlichen Farbe. Jaja,
die weisen Frauen und ihr Siedezauber bei euch nicht besser
als bei uns ...mußte ich wohl etwas zu deutlich vor mich hin
gedacht haben, denn bevor der von mir angehobene Rand des Topfes
alles andere als seinen Inhalt aus meinem Sehwinkel verbannte,
gewahrte ich von der Schamanin noch einen tadelnden Blick. Dann
dachte ich an neun lange Nächte am Weltenbaum, die auch kein
Honigweinschlabbern gewesen waren und versuchte zu ignorieren, was
mir da an hochmagischer Gülle über meinen Göttergaumen
durch wölfisch knurrende Kehle in den protestierenden Magen
floß.
Lennia sang ihre Gesänge, und in meinem
Ohr verwandelten sie sich sogleich in fliegende, fallende,
tanzende Runen, bildeten einen Kreis von Feuer bis Feuer, das
ganze Werden, Vergehen und Wiederwerden der Welt, und eine
Wassertrommel schlug hohl und schnell den gleichmäßigen
Takt des warmen Mutterbodens. Das Zimmer zerplatzte, ich ertrug
seine Wände nicht mehr, die steinernen, seine rechten Winkel
und seine halbsynthetische Tapete. Es wurde zum Tipi, zum
Stangenzelt, doch um das Zelt war ich´s selber, der brauste,
stürmte und tobte, alle Wetter rufend, alle Wetter bringend,
mit meinem Sohn, dem Donner, mitregnend und grollend und, während
er die Blitze warf, ich selbst allen Wettern gehorchend. Lennia
sang erst spanisch, dann in der Sprache ihrer Ahnen, bis ich kein
Wort mehr, doch dafür jeden Ton verstand, und sie hielt den
Tabak, von dem sie von Zeit zu Zeit zog, und den Kreis, und im
Kreis die Energie. Ich fühlte mich, als hätte ich Thrym,
den Lärmer unter den Riesen, in meinen Magen geladen und
seine ganze unheile Bagage dazu... oder als müßte
dieser Magen den Vanenkrieg nochmal durchstehen, bevor wir Asen
uns mit denen verbündet hatten, die uns heut so lieb und
teuer sind (und den Menschen burps hoffentlich au-)
GAAAAAAAH! Der Geist Ayahuáska war gekommen und trat
mir zur Begrüßung von unten in den Bauch die
Kraft dazu mußte er von Thor selbst geborgt haben (warte,
wenn ich dich erwische, Söhnchen!) ... GAAAAAH! Wie eine
Fontäne entlud sich mein Mageninhalt in hohem Bogen aus
meinem Mund, verzischte im heiligen Feuer, tropfte auf Erde und
festgeklopften Schlamm des heiligen Altars (und verunreinigte
womöglich den nicht ganz so heiligen Teppich, aber was will
man machen). GAAAAAAAH! Aller guten (und meiner heiligen) Dinge
sind drei, dreimal drei ineinander verwoben, und meinem Namen
Hengikjöptr ("Hängekiefer") machte ich nun
sicher alle Ehre "Ekstase" klingt weißmeinereiner
wirklich schön geil, aber ich bin schon froh, daß dies
hier nur ein Buch und kein Film geworden ist, denn ein alter
hagerer Kerl, der sich sabbernd und kotzend den Graubart und das
Gewand samt der halben Umgebung bekleckert, während sein
eines Auge blind bleibt und sein verbliebenes sich grad nach
auswärts dreht, ist weißdiegöttin nicht der
appetitlichste Anblick. Anderseits hab ich mich nie darum bemüht,
der Gott des Armanilaufstegs oder der im adretten
Serviettenhäubchen servierten Mozartkugel zu sein. Bei mir
selber! Hrafnaguð, Rabengott, rufen mich die Meinen, und Rabe
muß ich werden: jetzt. Sofort: um mein Gedächtnis, ja
mich selbst, zu finden. Wieder- und zurück zu finden. Zurück
zu er-finden. Immer alles aufs Neu´. Das Leben ist ein
Kreis: eine ewige, wild zuckende und stürmende, pulsierende
Spirale. Das weiß auch Kollege Ayahuáska. Der nimmt
mich an den Beinen, zieht kräftig an und
augenblicklich verliere ich meine Menschengestalt (das ginge auch
jedem Menschen so. Warum sollte es den Sterblichen auch besser
gehn als uns Göttern...). Ab ins All: zwischen die Welten.
Die drehen sich um mich gerade bzw. krumm alle neune, nur
hab ich selbst am wenigsten davon. Alle Kräfte zerren und
ziehen von allen Seiten. Ich weiß nicht wohin. Wo sind die
Runen?
Eine Frauenstimme klingt an mein Gehör: "Rufe
den Raben! Rufe den Raben! Rufe deinen Raben!" Verdammt!
Ich habe seinen Namen vergessen... Was für ein Rabe? Wer bin
ich? Was bin ich? Ein Schwein fliegt vorbei, so eine Art rasende
Wildsau (vielleicht aber auch ein Eber), auf seinem
goldschimmernden Borstenrücken sitzt rittlings eine
prachtvolle nackte Frau danach gleich noch eins, von einem
herrlich erregten (und ziemlich stattlichen, Junge Junge...)
jungen Mann beritten, der ihr Bruder sein könnte beide
grüßen mich im Vorbeiflug... wie fröhlich sie
winken... kenn ich die? Wo bin ich hier überhaupt? Und was
bedeutet "hier"? Eine Frauenstimme schraubt sich mir
zunehmend schrill in die Seele: "Rufe den Raben! Rufe den
Raben!" Die Stimme wird mir unangenehm. Was ist das
eigentlich eine Stimme? Aus was besteht eine "Stimme",
und was bedeutet sie? Das will ich herausbekommen... Ich versuche
sie zu begreifen, einfach zu begreifen und bekomme
plötzlich etwas Hartes zu fassen einen Knauf? Nein
das muß ein Schnabel sein, ein Vogelschna- AU! Schmerz
durchzuckt mich, zackt stechend und tief von den Fingerspitzen
hoch in den ganzen Arm hinauf, durch und durch Arm?
, vor mir ist meine Hand, blutend: rotes Blut...? Ja bin ich
denn... "Verzeihung! Um Asgardswillen...! Chef???"
Mühsam drehe ich mich um (alles fliegt, alles zieht, ich
bin völlig auseinander, bestehe aus rasend fliehenden
Einzelteilen) eine Art Gesicht zeigt sich mir: ein Vogel?
Oder ist das doch ein Weib? Oder beides zugleich? Ich vermeine,
Schlachtengetümmel zu vernehmen... Durch das Brausen aber, in
dem alles gleich wieder untergeht, ohne ganz verschwinden zu
können (es kommt immer wieder: alles, alles... aahhh), fragt
mich das (Frau? Vogel?) Gesicht: "...Chef??? Du hier?"
Ich bin auseinander und fühle doch jedes Teil
und alles rotiert immer schneller freier Fall überall
gleichzeitig hinfliehender Kräfte "Wer seid ihr?"
brülle ich unbeherrscht, "was wollt ihr alle von mir?"
"Deine Dienerinnen, deine getreuen Helferinnen...,"
säuselt das Gesicht seltsam knarzend zurück, Federn
tanzen vor meinem Blick, schwärzliche Federn, aus stinkenden
Schnäbeln tropft Blut, an ihren Spitzen hängt Fleisch,
warmes Fleisch, zerfetzte Haut, Menschenhaut... schwarze
wildflatternde Schattengestalten tanzen um mich herum, ohne unten
und oben, ohne Grenze im Raum und ein Geschrei, ein
krächzendes Geschrei... krah, krah, krah! Vielstimmig,
kakophon, über dem Brausen, dem nicht endenwollenden
Lärmen... was will mir das Gesicht sagen? Ich versuche mich
auf dieses Gesicht zu konzentrieren, auf diesen Mund oder
sagt man Maul? Welches Maul klappert? Nennt man das Schnabel?
Dieses zweiteilige lange Maul, das auf und zuklappt wie eine
Schere? Aus dem die blutigen Fleischfetzen hängen und fallen
im rasenden Flug? Rotzüngig weitaufgerissenes Maul, hart und
schlank, und laut meine Fresse, warum so laut was
schreist du mir in die Seele, du grausames Mistvieh, du was
zum Geier ha was willst du? Wie ein schneidender
Strahl bohrt sich die Stimme in mich hinein: "...Deine
Valkyries sind wir! Wir sammeln den Rest der Gefallenen auf für
dich, Herr...! Freyja Vanadis, die Große Herrin, war
schon da und hat sich die ihren genommen! Erkennst du uns
denn nicht... siehst du denn nicht?"
Ich sehe (und das
auch nur ganz kurz in all dem Getümmel) ein stockdunkel
schimmerndes Auge, kreisrund, einen Schädel so schwarz wie
ein Kuharsch nach Mitternacht, um mich ein Kreisen, ein Toben, ein
Schlagen und Kreischen und Weh´n...
"...
Geirskögull bin ich, mit mir schliefst du und wälztest
dich in Wonnen, Geliebter: unter dem Baume, dessen Wipfel sich im
Nebel verhüllen, und dem man nicht ansah, aus welcher Wurzel
er sproß... mich, deine Freundin: mich herztest du
rittlings, als Schnee fiel bei anbrechendem Tage auf das
frischgerötete Feld... wir fuhren Schlitten den Hang hinab,
auf unsern gefiederten Rücken, weißt du nicht mehr? Du
hübscher geiler Knochen du!" Und sie hackte mit
ihrem langen blanken Krummschnabel in mein Gefieder. Gefieder?
Schwarz wird mir die Sicht, das Brausen verstärkt sich, alle
Gesichter verschlingend, ein Schlund tut sich auf, ein rotierender
Trichter wie der Abgrund zwischen Feuer und Eis vor Anbeginn der
Welten was lesen Sie da für einen Unsinn, Sie
Sie wer sind Sie überhaupt? Wer gibt Ihnen das Recht,
mich in diesem Zustand zu betrachten? Haben Sie nichts besseres zu
tun als AAAAAAAAAAHM AAARSCHDIERÄUBER verdammt geht
das schnell runter hier und immer weiter hinab jetzt
höre ich eine Melodie die sich immer wieder in sich selbst
verschlingt Kehrreim, kehr heim, Kehrreim, schwarz wie
finster, willste Gelbes, futter Ginster... hä? Fällt er
in den Graaaben, fresssssen ihn die Raaa Raaa Raaaben... krah krah
krah hack krah hack hack haah krah ack ack ack ack ack... Und in
der bodenlosen Schwärze verlieren sich Schlund und Schlacht
und Schauer und Schorf und allesch wasch isch schonsch immer
schlimmer schagen wollte sch-sch schschsch shhhh... sschhhh...
chrrr... hhhhh.
Schlaf. Weiß, weiß fällt
der Schnee. Flocke auf Flocke, und ein langer Tanz geht zuende.
Still, ganz sacht und still. Nur das Seufzen der Felsen ist zu
hören, für jemand, der Ohren hat dafür. Ich öffne
die Sicht. Blau, glänzendes Blau... der Himmel. Das ist der
Himmel. Keine Wolken da oben, nicht eine einzige. Der goldene Ball
da das ist die Sonne. Ich weiß es, jetzt weiß
ich es wieder. Eine Gestalt beugt sich über mich, eine schöne
Gestalt, mit feinen Fältchen im bronzenen Gesicht, eine
anmutige Gestalt mit langen blauschwarzen Zöpfen. Sie öffnet
ihren Mund, sie sagt etwas zu mir, sie ist freundlich, glaube
ich... Doch ich höre nur das Seufzen der Felsen (oder bin ich
das selber? Wo ist meine Seele?)... Da ist auch ein Singen im
Seufzen der Felsen, ein hoher, säuselnder Singsang...
beruhigend, aber fremd. Eine Schale vor meinem Mund: "Trink!"
sagt die Schale. Ich will gehorchen, doch meine Muskeln gehorchen
mir nicht. Federn werden über mir geschwungen in bedächtig
sich wiegendem Takt, warm ist es hier, fast heiß... wo ist
der Schnee geblieben? "Er ist gestern geschmolzen. Alles
ist gut." sagt das Mädchen. Mädchen? Sie trägt
ein perlenbesetztes Kleid mit vielen Fransen. Sie kann nicht älter
als neun Jahre sein... Eine Gruppe Frauen, ähnlich gekleidet
wie die Kleine, sehe ich aus den Augenwinkeln, sie singen, scharf
zeichnen sich ihre Silouhetten ab vor dem stechenden Blau des
Himmels... Ich habe mich geirrt, ich habe mich in Ort und Zeit
geirrt... Mein Blick sucht Halt, ich sehe die Flamme des heilenden
Feuers, sehe die Scheite glimmen und brennen... Die Frauen
schwenken ihre langstieligen Federn über mir, "alles
wird gut, alles ist gut...", andere sitzen ums Feuer, ich
sehe rechtzeitig die Gefahr ich rufe: "Paßt
auf! Die Flamme brennt an!"
Da lacht das Mädchen
hell auf, das mir die Schale hält, andere gucken verdutzt,
Gesichter wenden sich mir zu, lachen dann auch, und ich muß
mitlachen, lache bis mir die Tränen kommen, und davon muß
ich gleich wieder weinen, und merke gar nicht, wie ich wieder
zurückfalle, die Schwerkraft mich wieder entläßt,
zurück zurück wohin geht die Reise? Macht´s
gut, ihr am Feuer ich habe mich in Ort und Zeit verirrt?
Nein, einen Besuch nur abgestattet bei Freunden, bei guten alten
Freunden, ein kurzer nur, danke für das Wasser, schön
war´s... und weg.
M.
"Hammarr í
nordri, helga vé thettir ok hald vorth." Der
vertraute Klang der Silben bringt mich in die (andere, ja ja, ich
weiß schon...) Wirklichkeit zurück. Was für
Silben? Das war doch nur Gekrächz. Ich sitze auf Lehm,
rotgebranntem Lehm, Dachziegel nennt man die, und First das,
worauf ich stolz sitze. Die Nacht ist kalt und keineswegs schwarz,
denn das Leben unter mir geht verschwenderisch um mit seinen
Lichtern bis zum Horizont reicht ihr nur leicht
schwächelnder Glanz, läßt die meisten Sterne nicht
sehen, und verliert sich erst fern am Firmament, wo es jetzt grad
nichts Interessantes gibt. Ich sitze auf dem Dachfirst, ich habe
Zeit, ein wenig wenigstens noch, und ich putze mein Gefieder. Ich
bin schwärzer als diese elektrische Nacht. Die Wolken ziehen
sich zu, lassen Regen fallen, guten kalten Regen, in gleichförmig
glitzernden langen Fäden, myriardenfach und stoisch, bis es
unten, wo immer Halt sein und sich Nässe stauen mag, von
jedem Eck, aus jedem erreichbaren Winkel plätschert, gluckst,
platscht und tropft. Pfützen auf dem Pflaster sagen wahr, was
keiner merkt. Autos stöhnen sich einsam ihre Schluchten
entlang, aber nicht mehr viele um diese Zeit, denn diese Stadt ist
nicht so groß, daß "etwas los" wäre
darin, wie die Flügellosen gern sagen. Was die immer sagen...
Ich bin los. Alles ist los. Man muß nur Augen dafür
haben, oder einen anderen Sinn. Ich spüre jemand kommen, den
ich kenne Wind bringt er mit, schneidend scharfen kalten
Winterwind, der biegt die Regenfäden mal nach hier und mal
nach dort, denn er wechselt die Richtung fast mit den Gassen, die
er durchstreift. Triste Zeiten für Fußgänger, doch
ich kenne den einen gut, der da kommt. Und da ich ein höfliches
Geschöpf bin, begrüße ich ihn mit einem lauten
Hallo-wie-geht´s-Alter, das aus meiner Kehle natürlich
erklingt als ein halb so langes, aber deutliches "Krah!"
Immerhin weiß er noch, wer er selber ist, der Alte, denn er
gibt mir den Ruf zurück: "Krah!" ruft auch er,
obschon leiser, und mit einer Stimme wie von einem Menschenmann.
Er hat mich nicht sehen können, und leise muß ich in
mich hineinlachen, denn er hat mich nicht erkannt. Die Frau wird
ihm helfen, zu der er jetzt geht, ich höre deutlich, wie er
die knarzende Tür öffnet, die sich in dem Haus befindet,
auf dessen Dach ich hier verweile. Viel Zeit bleibt mir jetzt
nicht mehr. Auf Reise wird er nun gehen, um mich zu finden, und
ich glaube, es ist jetzt besser, ihm entgegenzueilen. Sorgen macht
er sich, der Alte ts ts ts, der hat ja keine Ahnung, aber
wen wundert´s: die hab ja ich. Lang war mein Weg, und viel
muß ich tragen nicht nur für ihn, den
Einäugigen. Der soll sich mal keine Sorgen groß machen.
Er hat mich ja selber weggeschickt, aber natürlich hat er das
alles vergessen, denn das meiste von seinem Wissen nahm ich ja
mit: wohlweislich. Hahaha! Schon ein gerissener Vogel, er. Und ich
natürlich auch! Haha!
Er wußte (oder ahnte es
wenigstens), daß sie ihn unsanft, höchst unsanft wecken
würden aus seinem vielhundertjährigen Schlaf. Daß
sie ihn wie aus dem Nichts heraus beschwören würden
millionenfach, mit völlig bewußtlos ausgegrabenem
Zauber: aber noch mehr, und allzu plötzlich, mit
neuentwickelten Mitteln und Methoden, von denen sich unsere
Altvorderen in der (gar nicht so guten!) Alten Zeit auf ihren
wüstesten Trancereisen nicht hätten träumen lassen!
Und er ahnte wohl, daß sie ihn schlachten würden, ihn
und seine unsere! ganze Kultur, ausschlachten und
rupfen wie ein erbärmliches Huhn, für ihre unheiligen
was krah ich: ganz und gar heillosen! Zwecke. Ja, seine
Hülle haben sie gefunden: etwas Keramik und Klamotten, auch
halbverrottetes Gerät, ein Armband hie, ein Speerschaft da,
ein paar von andern nacherzählte Sagen, und seine
unverstandenen Zeichen... und alles befleckt und besudelt haben
sie im zappendust´ren Wahn ihrer kanonenrußverstopften
Vierkantherzen, die Krieg nur wollten, weil sie sonst nichts
kannten, kennen wollten, und für nichts als Vernichtung Raum
noch ließen in ihren kurzrasierten (und auch sonst zu kurz
gekommenen) Totschlagschädeln auf den zu Maschinenzombies
kaputtgedrillten Leibern, die selbst Maschine wurden: knall peng
und vorwärtsmarsch in enggeschneidertem Kackbraun und
Lackschwarz... Diese fischäugigen Killersklaven
(Sklavenhaarschnitt! Kurz und knapp... Antennen weg vom Kopf
gekappt...) und selbstgerechten Sklaventreiber von aller Ungeist
Graden, mit ihrem stechsynchronen Automatenschritt und heillosem
Heils-Geheule, haltlosem Haßgeplärre und
massengröhlenden Gebell die, alle andern zu
versklaven, sich selbst noch "Herrenrasse" dünkten,
doch tiefer noch als jämmerlichste Gossenhunde sogleich
gesunken waren: die eigene Sippschaft auszurotten aus dem eigenen
Volk! Ein Dutzend Jahr´ lang Volksverrat: Amputation am
eigenen Herz herausgerissen. Unverschmerzt.
Nicht
auszudenken, wenn die auch noch Inhalte gefunden hätten: in
dem was sie so forsch und frech ergruben und mißdeuteten aus
Dolmen, Sage, Hügelgrab. Die Mythen konnten sie verbiegen,
das Erbe schänden bis zum Ende... Doch das wirkliche Wissen
wahr, weise, witzig, wunderbar gesammelt von den Unseren
vor lang verblichenen Generationen das ist allzu
naßforschem Griff noch je auf Hastenichgesehn entglitten.
Kein Menschenauge hat´s geschaut: rein gar nichts "steht
geschrieben"! Ich schwarzer Rabe hab´s bewahrt: frei
war´s, frei ist´s geblieben! Den Zugriffen entzogen!
Denn ich bin fortgeflogen! Der Alte selbst ließ hieß!
mich gehen, entfleuchen, rasch verschwinden... mich fort
und fort verkrümeln, weg, verlier´n, verweh´n,
verpissen so blieb´s gewahrt, das Wissen.
Und
Flügelfederchen aufs Herz die Schlachtfelder...
ach, die... die sind mir und meinereiner längst zu ekelhaft
geworden (richtig gehört: Es gibt da eine Ekelgrenze auch für
uns Freunde des reichlichen Leichenschmauses, har har har - ack),
seit Motorenlärm und stahlzerreißende Explosionen sie
zur einer Art Nonstopdämmerung der Menschenzivilisation
herunterkommen ließen pfui Teufel (mag man sich da
verbal doch glatt mal an der noch vorherrschenden Relügion
bedienen, schönen Dank auch, Kollegen, aber laßt ma´
gut sein allmählich...) nein, diese Schlachtfelder des
stumpfen Grauens im Stakkatodonner reizen uns Schwarzfedern,
Rabenbrüder und Valkyrieschwestern schon lange nicht mehr.
Vielzuviele sind´s geworden, auch kann man nicht mal von
oben mehr erkennen, wer da von wem noch was gewinnen soll (was uns
ja auch egal sein könnte aber trotzdem). Ein
Dauerhorror, wohin man fliegt auf diesem vollelektrifizierten
Globus. Gute Göttin!
Tief
und kühl füllt die Nachtluft meine pumpenden
Lungenkammern. Ahhhh. Tik-tik knacken meine Gelenkchen, gut hab
ich geruht, lang strecken sich meine sehnigen harten Stelzen, weit
spreizen sich die Schwingen welche Wohltat, all die Luft!
Hopp, he-hepp, her mit dir, Aufwind, greif mir unter die Arme,
hahak ahoo, heb mir die alten Flügel! Und schwupp
sanft entgleite ich dem Griff der Erdenschwere, wie es mein alter
Herr jetzt grad unten etwas unsanfter durchs magische Gebräu
seiner Freundin tut. Das sind natürlich neue Verbündete,
wie sie die Unsrigen der Alten Zeit nicht kannten... Aber wenige
sind wir geworden allenthalben, und Händchen auf die
Brust mit dem Vermischen der Völker sind auch unsere
Altvorderen schon gut gewesen, anders wären die Stämme
nicht gewachsen und gediehen, das ging bei Menschen seit je nicht
anders als bei Göttern in aller Farben Kraft und
Pracht.
Und hoch und weit segle ich auf den Winden, bis
über die Wolken und wieder darunter hinweg. Schnell trägt
mich mein Flug, in alle Welten schau ich, von allen Welten künd´
ich. Da unten lärmen die polternden Riesen, und dort graben
die Zwerge... Hier tanzen die Elfen ganz winzig und fast wie nicht
wahr in irisierendem Licht (doch mein scharfes Auge erspäht
sie trotzdem)... Da drüben wuchert das Grün und blähen
sich die prallen Früchte, und ganz ganz fern schimmert starr
und schweigend das ewige Eis. Rasch überflieg ich die Toten
im Staubreich der Schatten, nichts hält mich auf, nichts, ich
fliege und fliege. Ich spuck ein Klümpchen gegen sehr ferne
Flammen, doch es fällt nur auf Midgard, die zeitliche Welt:
irgendwohin auf die Straße. Nach Asgard, nach Asgard: Wo ist
die Hochburg der Rater? Noch ist elektrische Nacht, Sunna räkelt
sich schlafend: nirgends spannt sich schon eine bunte Brücke
aus schillerndem Licht in glitzerdem Tau früher Morgenluft.
Doch ich brauche keinen Regenbogen. Ich bin ein Rabe: der
wichtigste jetzt. Mein Bruder, der Gedanke, erwartet mich! Was
soll er ohne mich denken, aus was will er schöpfen, wie soll
er raten? Ich bin das Gedächtnis von Wind und Sturm. Alles,
was Wind je verwehte, trage ich in mir: Ich bin die Kunde. Der
Herr erwartet mein Kommen, ich fliege und eile. Ich höre ihn
rufen. Schwere Sorge trägt er ich trage das Wissen und
werd sie ihm nehmen mit dem, was ich weiß. Aus mir kann er
schöpfen wie in den ältesten Tagen, wenn ich auf ihm
lande in nachtschwarzem Kleid. Krah! geht mein Ruf und Sturmwind
trägt seinen, ich eil ihm entgegen, noch ist der Weg weit.
Die Straße verliert sich in fliehenden Schluchten, zwischen
Gebäuden, so stolz und so dumm (und so häßlich
zumeist), ich überflieg das Gewusel, Gebrumm und Gesumm. Ja,
hastet, ihr Menschen. Ich flieg majestätischer, trotz meiner
Eile. Der alte Baum knarzt und stöhnt, die geschundene Eibe,
"des Schrecklichen Pferd" ha ich weiß
was ich weiß. Ich trag die Geschichten, die alten, die
neuen, die unerhört wahren, die niemals erhörten, auch
die ohne Zeugen, laut oder leis´. Heim, heim zum Alten! Du
brauchst mich, ich geb´s dir, dein Wind trägt die
Flügel, die Kunde ist heiß. Und über das Meer!
Schaumig die Wellen, da unten wühlt Aegir, die Gischt sprüht
weiß. Da hebt sich die Sonne... Ich komme, ich
komme! Kriiiiiiiaaaarh!
O.
Kriiiiiiiaaaarh! Ich
zog die vernehmlich knarrende Tür hinter mir zu. Der Regen
hatte nachgelassen. Blinzelnd begrüßte ich den
angebrochenen Tag. Business as usual allenthalben was auch
sonst. Lennia hatte mir ein Band geschenkt, eine Kette: auf einer
Schnur aneinandergereihte Knospen jener Planze, aus denen sie
ihren scheußlichen, heilsamen Trank gewinnt. In der
dicksten, mittleren Perle stak eine gelbe Flaumfeder. Ich berührte
sie und lachte leise in mich hinein. Ich ging in zeitüblicher
Tracht, keiner beachtete mich (man muß nicht immer mit
blauem Mantel und Spitzhut herumlaufen. Bin ja keine
Fantasyfigur...). Munin war noch unterwegs, aber ich wußte:
Er würde kommen, so schnell er kann. Noch wußte ich
nicht genau, weshalb er diesmal so lang ausgeblieben war
einen menschenjahrhunderte währenden langen Göttertag
bis wirklich später als sonst in die Nacht (eines
Menschenjahrtausends) hinein aber (mal davon abgesehen, daß
ich es sicher bald genauestens erfahren würde), hatte ich so
eine Ahnung, und ich konnte mir ein Grinsen nicht verbeißen,
ein Grinsen über mich selber... Ich sah mit dem
lichtempfindlichen Auge auf den Straßenverkehr (wär ja
auch zu billig, wenn mich grad jetzt noch so´n Laster
überrollte) und mit dem sehenderen die nicht jedermann klaren
Zusammenhänge. Eine Krähe flog über mir, gab Laut.
Ja, grüß mir den, den ich erwarte, krähte ich
launig zurück und hinauf, zog mir den Mantel fester (es war
immer noch ganz schön frisch), und machte, daß ich
weiterkam. Vielleicht noch ein kurzer Stehimbiß beim Bäcker,
der schon offen hatte ein frisches Croissant mürfeln
und der Menschen Reden lauschen. Bei einem guten Schluck Kaffee.
Und dann ab nach Asgard! Rat soll ich raten. Denn die Lage ist
ernst. Wie immer! Ich lachte.
text
© duke meyer 2001 .
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